Mit der Zeit gehen

Ich wurde groß
ohne bloß auf den Fernseher zu schauen.
Wild & Free statt MTV
So stromerten wir durch die Wälder.
Auf den Feldern dröhnten keine Charts,
nur Vogelgesang und Traktoren bekamen die Ohren zu hören.
Auch Stars und Sternchen existieren nicht.
Keiner von uns bekam sie je zu Gesicht
und jeder war für sich eine Berühmtheit.
Weit und breit niemand, der so gut vom Fahrrad fallen konnte, wie ich.
Maßstäbe waren anders gesetzt,
da wir keinen Idealen hinterherhetzten
sondern jeder selbst wertvoll war
ohne Glanz und Gloria.
Als „von gestern“ betitelte man mich.
Ich liefe ein wenig hinter der Zeit.
Bleibt man überhaupt up to date,
wenn man sein eigenes Tempo geht?
Oder bleibt man hinter dem Glück zurück,
das der Zeitgeist als begehrenswert verkauft?
Ich fing an, schneller zu laufen
und überholte die Zeit mit meinen Gedanken,
die große Luftschlösser umrankten,
in denen meine Zukunft zu Hause war.
„Eines Tages“, „Dann, wenn“, „Später einmal“ –
so stahl ich meiner Zeit die Gegenwart,
war ihr eine Nasenlänge voraus,
und wollte, dass meine Faust auf ihr tickendes Auge passte.
Die Realität hasste mich dafür,
weil es ihr nichts anderes übrig ließ, als mich zu enttäuschen.
Ich bließ Trübsal und Seifenblasen in die Luft
und mit jedem Platzen verging mir die Lust zum Hoffen ein bisschen mehr.
Einem Tagträumer, Fantasten, Visionär läuft die Zeit geduldig hinterher,
bis sie an einer Kreuzung einen anderen Weg verfolgt.
Nicht alles, was von Ferne glänzt ist Gold.
Ich schaute nach vorn und ich schaute zurück
und als ich endlich ruhig stand,
wurde meine Hand von der Zeit ergriffen.
Sie zeigte mir fein geschliffene Momente,
kunstvoll bereitete Augenblicke, tiefen Frieden in der Mitte.
Und seit langem ging ich wieder mit der Zeit,
Schritte im Alltagskleid des Seins.
Von Fülle bis Reichtum fehlte mir keins.
Alles war voll bis an den Rand,
jeder Zeitpunkt fand seinen rechten Stand
genau, wie jedes Gefühl, jede Freude, jeder Schmerz.
Mit jedem Herzschlag ein neuer Moment,
den nur das volle Bewusstsein erkennt.
Weder das Wünschen für Morgen noch gestrige Melancholie
konnten die Melodie übertönen,
zu der mein Leben leise im Präsenztakt ging.
Und hin und wieder entschied ich zuletzt große Fragen
mit der Überlegung „Wann, wenn nicht jetzt?“
Zu sein tut gut, im Hier zu verweilen.
So will ich nicht eilen, nicht hinten anstehen,
sondern bummelnd fröhlich
mit der Zeit gehen.