* Blumenpuste

Annakdoten aus dem Alltag

Nicht länger warten

IMG_9991_2Neulich traf ich Heute im schwindenden Licht der Dämmerung an. Es hatte den Kragen seines Mantels aufgestellt und sein Kopf verschwand fast zwischen den hochgezogenen Schultern. Heute sah müde aus. Als es mich bemerkte, lächelte es leise mit reglosen Augen. Der Tag sei erlebnisreich gewesen, meinte es, aber Morgen werfe seine Schatten voraus.

Morgen, morgen, nur nicht heute, das sagten nicht nur die faulen Leute. Nein, auch die aktiven Leute und die Träumer erwarteten so viel von Morgen, dass sie Heute manchmal ganz vergaßen.

Als ich Heute so reden hörte, verstand ich, dass es an der Zeit war, etwas zu ändern. Ich fühlte mich ertappt, weil ich so oft unzufrieden mit dem Heute war. Wieder etwas nicht geschafft, andere Erwartungen gehabt, zu wenig Alleinzeit in allem Trubel, wieder Prioritäten verschoben. Verglichen mit dem Ideal liegt meine Realität oft weit daneben.

Dazu kommen die Projekte, die im Heute keinen Platz finden und in unbestimmte Zukunft verschoben werden. Herzensanliegen, die ich so lange unterdrücke, bis ein anderer Wind weht.

Und ist da nicht immer dieser Gedanke? Dass das Leben gut ist, aber es noch besser wäre, wenn… ein Partner da wäre. Man verheiratet wäre. Die Situation auf Arbeit anders aussähe. Man mal wieder in den Urlaub fahren könnte. Man ein Haus hätte. Man mehr verdienen würde. Man Kinder hätte. Die Kinder aus dem Haus wären. Man gesünder oder sportlicher wäre. Wenn Pizza zu Gemüse zählte.

Hätte, hätte. Ist aber nicht.

Und dass es nicht ist, heißt nicht, dass das Leben weniger gut ist. Das darf es nicht heißen. Heute mag anders aussehen, als ich es mir ausgemalt habe. Heute ist oft so richtig banal. Aber mit dem Warten auf ein besseres Morgen kommen Unzufriedenheit, Motivationslöcher und all deren Freunde. Beim Warten vergesse ich, dass es Pläne und Wege gibt, die meinen Horizont übersteigen.

Ich will damit nicht sagen, dass es schlecht ist, sich Gedanken über die Zukunft zu machen. Ich glaube auch nicht, dass alles, was passiert, gedankenlos hingenommen werden soll. Aber ich versuche, den heutigen Tag dankbar so anzunehmen wie er ist, und das Bestmögliche daraus zu machen.

Ich will nicht auf eine Arbeit warten, bei der ich nicht vor Sonnenaufgang aufstehen muss, sondern heute den Sonnenuntergang genießen. Ich will nicht auf eine schöne Einrichtung warten, bis ich eine eigene Wohnung habe, sondern ich will mir mein Zuhause heute schon heimelig mache. Ich will nicht warten, bis ich eine Großmutter bin, sondern jetzt schon Leute zum im Schaukelstuhl schaukelnden Kaffeetrinken einladen.

Ich will gerne ein wortwörtlicher Morgenmuffel sein, und von Kopf bis Fuß im Heute leben. Ich will nicht länger warten.
Heute ist mein Tag.
Heute soll gut sein.
Denn heute, heute, nur nicht morgen, das ist es, was heute zählt.

Menschen auf dem Weg [3]

DSC_0826Ich habe eine Tradition zum Jahreswechsel. Ich reflektiere das vergangene Jahr und blicke vor auf das kommende Jahr, indem ich einen Fragebogen durchgehe. Dazu gehört unter anderem auch die Frage, welche Menschen mein Leben betreten haben und von welchen Menschen ich mich verabschiedet habe. Es hilft mir definitiv dabei, bewusster zu leben.

Mit dem Umzug nach Freiburg ließ ich einige Menschen zurück. Menschen, die mich über Jahre hinweg begleitet und geprägt haben. Freunde und Freundinnen, Kommilitonen, Bekannte, Mentoren, Unterwegsler, Wegbegleiter. Und bei manchen „Abschieden“ stand die Frage im Raum, wie lange man noch in Kontakt stehen würde und ob es wirklich die Freundschaften waren, die ein Leben lang halten werden. Denn auch, wenn man sich immer mal wieder sieht, gehen die Lebenswege doch getrennt weiter.

Mit dem Umzug betrat aber auch eine Menge neuer Menschen mein Leben. Manche kamen einfach so in die Wohnung spaziert, andere musste ich selbst suchen. Es gab diese seltsamen Momente, in denen ich zaghaft lächelnd am Rande des Geschehens stand, hin- und hergerissen zwischen Bleiben und Gehen. Da war dieser Moment, als ich das erste Mal seit langer Zeit jemanden auf Facebook hinzugefügt habe, mit dem ich noch keine gemeinsamen Freunde hatte. Das leise Betreten neuer Netzwerke, ein vorsichtiges Sondieren von Dynamiken, das Überprüfen von Passform und Sitzgenauigkeit.

Am Ende des Jahres zu sehen, wie viele neue Persönlichkeiten mein Leben bereichern, lässt mich staunen und dankbar werden. Für die Menschen, die sehen, dass ich einen schlechten Tag hatte und sich mit den Worten „Okay, ich frag nicht weiter“ aus dem Staub machen. Die anfangen, mich Frau Blume zu nennen. Bei denen ich in der Ecke krümeln darf, wenn ich eine Pause von der Welt brauche. Die mich fördern und fordern. Die mir beim Wichteln u.a. einen alten Schuh vom Straßenrand überreichen, weil sie wissen, dass ich darüber lachen kann. Die mich wirklich schnell kennengelernt haben.

Und schließlich gibt es die Wahnwitzigen, die kamen und sahen und nie wieder gingen. Deren Lebenswege meine gekreuzt haben und die trotz aller Entfernungen und Turbulenzen immer wieder neue Geschichten mit mir schreiben. Denen gebührt ein Universaldankeschön.

Für die Menschen dankbar zu werden, die mit mir auf dem Weg sind, hat seinen Platz an der Weihnachtskrippe. Dort sehen wir nicht nur das Kind, das kam, um mit uns zu sein und Anteil an unserem Leben zu haben. Wir sehen ein Kind umringt von Menschen: Der eigenen Familie, Bekannten, Unbekannten aus Fern und Nah. Ein Leben in Gemeinschaft und Jüngerschaft. Wir sehen ein Kind, das Generationen und Traditionen verbindet, das vereint und Unterschiede überwindet. Ein Kind, das Freundschaft und bedingungslose Versöhnung vorlebt. Einen Menschen, der allen Grund dafür gibt, gemeinsam auf dem Weg zu sein.

 

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Mehr vom (unvollständigen) Weihnachtscountdown gibt es hier nachzulesen.

Es werde Licht [7]

IMG_1702“Es werde Licht,” sprach ich
und machte die Augen am Morgen auf.
Langsam und mühsam, Millimeter für Millimeter.
Die Welt sah noch etwas verquollen und unförmig aus,
ganz wie meine Haare.

„Es werde Licht,“ sprach ich
und zog die Vorhänge zurück,
um die Strahlen des Tageslichts hineinzulassen,
wobei ich merkte, dass ich die Heerscharen von Staubpartikeln
auch schon lange nicht mehr hinausgelassen habe.

“Es werde Licht,” sprach ich
und knipste das Licht in der Küche an.
Ich sah den Abwasch und den Biomüll,
den ich eigentlich noch rausschaffen wollte
und knipste das Licht gleich wieder aus.
So was will ja niemand sehen.

“Es werde Licht,” sprach ich
und machte die Kühlschranktür auf,
wo mir Reste vom Feste, das Gelbe vom Ei und die blöde Kuh ins Auge fielen,
sich einfach fallen ließen und in die Augen plumpsten.
Diese treulosen Tomaten!

“Es werde Licht,” sprach ich
und steckte von Vorfreude begeistert den Stecker der Christbaumbeleuchtung
in die Steckdose, was das ganze Haus in Dunkelheit versetzte,
weil die Sicherungen rausgeflogen waren
und nun mit weiten Schwingen auf den Horizont zusteuerten.

“Es werde Licht,” sprach ich
und leuchtete meiner Katze mit der Taschenlampe unvermittelt ins Gesicht,
woraufhin sie erschrocken fauchte, einen Buckel machte
und hinter der nächsten Hecke verschwand.

„Es werde Licht,“ sprach ich
und ließ ein Streichholz aufflammen,
wie einen Miniaturflammenwerfer für ein Miniatur-Crème-Brûlée.
Es funkt, funkelt und feuert
und fiele es aus meiner Hand würde es nicht lange fackeln,
einen Flächenbrand anzustiften.

“Es werde Licht,” sprach ich
und zündete damit eine Wunderkerze an,
die vor Wundern nur so knisterte und glitzerte und sprühte,
wie ein Feuerwerk in meiner Hand,
gerahmt von kleinen Brandlöchern in meinem Ärmel.

„Es werde Licht,“ sprach Gott
und sah, dass es gut war.
Ich glaube, es ist gut,
dass er damit angefangen hat
und nicht ich.

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Mehr vom Weihnachtscountdown gibt es hier nachzulesen.

Adventsstress [8]

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Stell dir vor, es wäre Stress, und keiner ginge hin.
Stell dir vor, es wäre Advent, und du hättest Zeit.
Zeit, um Plätzchen zu backen und zu essen.
Und jedes letzte Plätzchen gefolgt sein zu lassen von noch einem, und noch einem.
Plätzchen zum Verweilen, einen Ort zum Verstecken, und Raum, die Welt zu entdecken.
Raum zum Einnehmen, Platz zum Sein, und dir deiner Örtlichkeit bewusst zu werden.

Stell dir vor, du könntest Raum und Zeit als Chancen sehen.
Portioniert, gegeben, nicht im Überfluss, und doch fließend.
Stell dir vor, deine Füße stünden auf weitem Raum,
dein Herz schlüge in Ewigzeit.

Stell dir vor, niemand hätte dir je den Floh ins Ohr gesetzt, dass die Adventszeit vollgestopft und chaotisch sei.
Stell dir vor, du würdest jeden Morgen erwartungsvoll deine Tür öffnen,
so wie früher, als du gespannt das nächste Türchen an deinem Adventskalender geöffnet hast.
Stell dir vor, du könntest es kaum erwarten, mit dem Öffnen deiner Schlafzimmertür am Morgen die Überraschung zu entdecken, die dieser neue Tag für dich vorbereitet hat.

Stell dir vor, du würdest dich weigern, gestresst zu sein,
weil dir mit jedem neuen Tag 24 neue Stunden geschenkt sind.
Wie 24 Türchen, 24 Tage im Advent, 24 Tage Warten auf Weihnachten.
Es ist Zeit, die wir haben, und Zeit, die vergeht.
Zeit, die gefüllt wird.
Von manch festgelegten Routinen und Aufgaben.
Von frei wählbaren Aktivitäten.

Stell dir vor, du würdest dein Hauptaugenmerk auf die Zeit richten, die dir gegeben ist.
Die Momente, die deinen Tag wertvoll machen.
Auf den Freiraum in deinem Alltag, den du füllen kannst.
Mit Menschen, mit Gesprächen, mit Ruhe und warmen Socken.
Stell dir vor, dir würden vor Fülle die Augen übergehen.
Vor Dankbarkeit, vor Gnadenzeit.
Wäre das nicht schön?

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Dieser Weihnachtscountdown ist der Nachfolger des Countdowns von 2015, mit großartig-amüsanten Einträgen, die hier nachzulesen sind.

Der den Sturm stillt [10]

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Was fliegt so früh durch Nacht und Wind? Es sind die gelben Säcke, die nicht festgebunden sind. Das waren nicht exakt meine Gedanken, als ich heute morgen kurz nach 5 aufgewacht bin. Und trotzdem beschreiben sie den Sachverhalt ganz gut. Ich wachte auf und hörte Geräusche von draußen. An der Tür zum Balkon stehend sah ich, dass Pflanzen umgekippt waren und im Wind hin- und herrollten. Die gelben Säcke, die wir ein paar Meter weiter aufbewahren, hatten sich langsam, aber sicher über den Balkon verteilt. Es war quasi ein morgendliches Wiedersehen mit der Käseschachtel von letzter Woche, einem Joghurtbecher und einer leeren Spülmittelflasche.

Die Wetterseite bestätigte meinen Verdacht: Warnstufe Rot. Orkanartige Sturmböen. Dazu prasselnder Regen. Blitze zuckten über den Himmel. Großartig. Ein Sturmgewitter in nächtlicher Frühe.

Das hätte mich nicht weiter kümmern müssen. Jedoch musste ich eine knappe Stunde später zur Arbeit aufbrechen, und der Sturm sah nicht aus, als ob er bald aufhören würde.

Ein Schritt vor die Tür überzeugte mich davon, dass es eine recht schlechte Episode von „Dumme Dinge, die ich schon mal gemacht habe“ werden würde, wenn ich mit dem Fahrrad losführe. Äste fielen herunter, und ich wäre komplett durchnässt auf Arbeit angekommen, wenn ich überhaupt gegen den Sturm angekommen wäre.

Ich fing also an, die Alternativen zu durchdenken, was aufgrund der Uhrzeit ein sehr langsamer Prozess war. Das Beste wäre gewesen, wenn es mit Stürmen aufgehört hätte. Das war aber erst für ein paar Stunden später angekündigt.
Ich beschloss, einfach noch ein paar Minuten zu schlafen. Und irgendwie ging mir durch den Kopf, dass es ja nicht das erste Mal wäre, dass ein Sturm gestillt wird.

20 Minuten später sang mein Wecker los. Ich stand auf, ging zum Fenster… und der Sturm hatte aufgehört zu toben. [Der Wind legte sich und es ward eine große Stille.]

Ich drehte mich innerlich um, um zu schauen, ob Gott irgendwo mit einer versteckten Kamera wartete. Ernsthaft? Also, danke, aber… danke. [Wer ist nur dieser Mann, dass ihm sogar Wind und Wellen gehorchen?]

So hätte sich vielleicht die Stillung des Sturms damals angefühlt, wenn die Jünger nicht in Panik verfallen wären. Sie hätten geschlafen, weil sie gewusst hätten, dass Jesus sie nicht über Bord gehen lässt. Ich war den ganzen Morgen über fasziniert davon, wie sich mein Umplanen einfach so in Luft und Schlaf auflösen konnte. Dass sich jemand wieder mal in meinen Tag geschlichen hatte, noch bevor der überhaupt so richtig angefangen hatte.

Diese Faszination möchte ich weitertragen, bis Weihnachten, und darüber hinaus. Wir warten auf den, der den Sturm stillt. Auf den, der im Orkan schlafen kann. Auf die Ruhe im Sturm. Auf den, dem Wind und Wellen und Warnstufe Rot gehorchen. Ihn möchte ich immer wieder einladen, in meinen Stürmen ein Nickerchen zu machen, damit ich davon inspiriert werde.

Und das nächste Mal, wenn ich den Müll aus den letzten Wochen durch mein Leben fliegen sehe, schaffe ich es vielleicht, in großer Gelassenheit den Müll Müll und den Sturm Sturm sein zu lassen.

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Dieser Weihnachtscountdown ist der Nachfolger des Countdowns von 2015, mit großartig-amüsanten Einträgen, die hier nachzulesen sind.

Über den grauen Tagen

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Ich schaue über den Tellerrand
meines Frühstücks und stelle fest:
Es ist wieder einer dieser Tage.
Niesertage könnte man fast sagen.
Ein Huster hier, ein Schnupfer da,
und prustend fröhlich tröpfelt der Niesel vom Himmel.

Blau wird zu grau, und hell zu schnell dunkel.
Man munkelt zwischen hochgezogenen Schultern
und rosig-frostigen Nasenspitzen.
Wo gestern Menschen in der Sonne spielten,
lauern nun Schaudern und Wind.
Ich ziehe die Mütze über die Ohren,
damit ich die Kälte nicht höre,
und schlinge den Schal fester um mein Herz.
Bis dorthin soll das Frösteln nicht dringen.

Die Nebelschlingen heben meine Stimmung
nicht wirklich, nicht merklich, im Gegenteil.
Der Atem wird kälter, langsamer, schwerer.
Das Denken älter, trüber, leerer.
November hat mich blass gemacht.
Und wenn ich dich so sehe –
gräulich, gekrümmt und verweht,
demotiviert und bleich –
denke ich, es reicht.

Über die grauen Tage lässt sich lange reden.
Bewegen werden sie sich nicht,
diese sturen Wolkenbringer.
Nur einen Blick, einen Gedanken, will ich wagen:
In diesen Tagen nach oben zu schauen,
mich durch die Dunkelheit zu denken,
über die faden Stunden.

Dort, über den grauen Tagen,
tanzt das Leben in der Sonne,
Tango und November-Hop.
Über der Wolkenhülle
füllt Frohsinn die Schwere aus.
Dort, über den Dingen,
dort möchte ich stehen
und zusehen,
wie Nebelschwaden schwinden.

Es ist wieder einer dieser Tage.
Blass-kalt, fraglich-unbehaglich, mau.
Ein Tag, ganz wie mein Befinden.
Schau, ich geh darüber stehen,
mit Fahnenwehen und Rückenwind.
Komm doch mit.

Die Fährte der Ruhe

IMG_6315Ich breche auf, um Stille zu suchen.
Ein Gesuch, ein Aufruf: Wer hat sie gehört?
Kann sie gefunden werden, von der, die sie stört?

Die Fährte der Ruhe führt mich zum See,
denn tiefe Wasser sind still, will man meinen.
Wolkenschein und Sonnenberge am Himmel.

Ich höre Kinder in der Ferne kreischen.
Eine Amsel singt, eine Ente knarzt verärgert.
Das Schilf raschelt unruhig im Wind.

Kann man die Stille sehen?
Denn hören kann ich sie nicht.

Ich sehe eine Feder über die Wellen tänzeln.
Eine Schildkröte plumpst unbeholfen ins Wasser.
Fische tummeln sich neben einem Felsbrocken.

Kann man die Stille fühlen?
Denn sehen kann ich sie nicht.

Ich schließe die Augen und spüre den Wind auf meiner Haut.
Wasser umspielt meine Füße.
Mich fröstelt es leise.

Ich schließe den Stift, die Augen und die Gedanken.
Ich bin ihr auf der Spur, der Stille.
Sie ist so scheu, wie ich suchend bin.

Wir werden uns aneinander gewöhnen.

Kontakte knüpfen

17776846_10212299802435941_1616549618_o„Willsch connecten, dann komm JETZT mit!“ Ich saß hungrig am Tisch und schnippelte einen Salat zum Abendessen, als mein Mitbewohner nach Hause kam. Ob ich „connecten“ wolle? Natürlich! In einer neuen Stadt kann man nie genug neue Kontakte haben. Aber ich hatte schon das Mittagessen übersprungen, wie konnte ich jetzt auch noch mein Abendessen liegen lassen?

5 min später rannte ich die Treppe runter, Käsebrot in der einen Hand, Fahrradlampe in der anderen. 5 später saß ich auf dem Fahrrad, Käsebrot in der einen Hand, Lenker in der anderen, Mund voller Brot. So rasten wir die Straßen entlang zur Innenstadt, weil wir sowieso spät dran waren. Der Salat durfte den Abend im Kühlschrank verbringen.

In einer neuen Umgebung anzufangen, braucht Spontanität. Ohne Alltag und Routinen ist sie eine gefragte Fertigkeit, denn man weiß oft gar nicht, was der Tag bringt. Meine Mitbewohner schulen mich sehr darin, weil sie mich dankbarerweise oft einladen, mitzukommen – in die Bar, zum Wandern, ins Kino, zum Hauskreis, zum Spieleabend. Diese Art von Kontakte knüpfen gefällt mir außerordentlich gut, denn sie verlangt mir nur Spontanität ab.

Die andere Variante, selbst loszuziehen und Kontakte zu knüpfen, ist nicht ganz so einfach. Wenn ich eins über meine Persönlichkeit sicher sagen kann, dann dass ich introvertiert bin. Damit einher geht meine Angst vor großen Gruppen. Wenn man mich  heute morgen in der Gemeinde beobachtet hätte, hätte man Folgendes sehen können:

Der Gottesdienst ist aus. Ich schaue mich um. Alle reden. Flucht ins Foyer. Auch dort: Alle sind in Gespräche verwickelt. Vorübergehende Flucht auf die Toilette. Vielleicht finde ich ja danach jemanden zum reden. Foyer Teil 2: Alle reden, nur nicht mit mir. Ich schleiche mich rüber zur Kaffeeecke, auch wenn ich dabei die Befürchtung habe, dass ich dann weitere 5 min ohne Gesprächspartner dastehe – nur eben mit einer Kaffeetasse zum Festhalten. [Hier ein wehmütiger Vermiss-Schluchzer für die USA – nicht alleine dastehen war nie leichter als dort.]

Ich meide Gruppenveranstaltungen so oft es geht, weil sie für mich nur Stress bedeuten. Sie sind erträglich, wenn ich einen Backup-Freund dabei habe, mit dem ich reden kann, falls sich sonst niemand findet. Vielleicht sollte ich mir als Alternative ein großes Schild umhängen, auf dem steht: „Suche Kontakte, sprecht mich an!“
Selbst wenn man Person XY gefunden hat, die sich auch gelangweilt an der Wand herumdrückt, dann steht einem Smalltalk bevor. Uuuuh. Smalltalk. Muss ich mehr dazu sagen?

Wenn sich neben einer spontanen Kontaktaufnahme noch mehr entwickeln soll, muss man irgendwann die Hosen runterlassen. Ein oben beschriebenes Schild wäre sehr offensichtlich, aber das hat man ja selten in der Tasche. Nur irgendwie muss man den Leuten ja signalisieren, dass man auf der Suche nach Anschluss ist. Ich muss „connecten“, ich muss neue Leute fragen, ob sie Lust hätten, mal etwas gemeinsam zu unternehmen. Ich muss mich „bedürftig“ zeigen, was mich verletzlich macht. Müssen muss man gar nichts, aber wenn ich mich zu meinem eigenen Glück zwinge, muss ich mir schon ein bisschen in den Hintern treten. Ich muss aus dem Schneckenhaus rauskriechen und langsam den Berg zu neuen Freundschaften hochkriechen.

Was ich dann auch gemacht habe. Mit der Kaffeetasse bewaffnet habe ich 3 Telefonnummern und eine Verabredung für morgen ergattert. Dann hat mein introvertiertes Selbst am See durchatmen können.

Bedürnisse zeigen und spontan bleiben. Verletzlich und aufmerksam sein. Auf der Suche bleiben und nicht aufgeben. Zur Not auf die Toilette fliehen. Neue Kontakte feiern. Wachsen und sich nach Neuem ausstrecken. Das Leben ist auch in Baden koi Schlotzer, aber es ist eigentlich auch viel schöner, gemeinsam einen Kaffee zu trinken, als sich einen Schlotzer zu teilen.

Lächerlich

20160905_161008Lachen verbindet. Lachen bringt Freude. Lachen steckt an und ist damit wohl eine der besten Krankheiten überhaupt. Lachen kann man laut – ein schallendes Gelächter, oder leise – wie ein schüchternes Kichern. Lachen an sich ist ein seltsamer Vorgang, der sich irgendwo zwischen Zwerchfell, Lunge, Mund und Gehirn abspielt. Wir stoßen in unregelmäßigen Abständen Luft aus, meist kombiniert mit Geräuschen. Wobei es auch Leute geben soll, die dabei einatmen (kurzer Seitenblick nach Albanien).

Lachen ist aber auch ein Ausdruck der Unsicherheit. Wir alle haben bestimmt schon einmal mitgelacht, trotz dass wir etwas nicht verstanden haben. Das kommt nicht nur im mehrsprachigen Bereich vor. Durch das Lachen will man einfach dazugehören. Besonders peinlich wird es allerdings dann, wenn man dazu etwas gefragt wird und zugeben muss, dass man keine Ahnung hat, worum es ging.

Lachen diskreditiert. Es ist üblich, dass man sich über Sachen lustig macht, die man für absurd hält. Lachen in der Politik ist beliebt und gleichzeitig gefährlich, weil es die Gefahr und Ernsthaftigkeit der Lage unterschätzen kann. Weltweit wird gerade auch durch die Medien über absurde Charaktere und Ansichten gelacht, als ob es das die einzig mögliche Reaktion sei. Doch Lachen hat die Menschheit in der Politik bisher nicht weit gebracht.

Lachen spielt mit Macht. Über eine absurde Idee zu lachen, stiftet Gemeinschaft und grenzt gleichzeitig aus. Es stellt einem Lachgefährten an die Seite, mit denen man sich gemeinsam über eine Idee erheben kann. Wer die meisten Lacher auf die eigene Seite zieht, hat in einem Gesprächsverlauf gute Karten. Und das ist meistens gar nicht mehr so lustig. Wer zuletzt lacht, erklärt eine andere Sache für lächerlich, für lachhaft.

Und da tut Lachen weh. Wir alle waren da und wissen, wie es ist, wenn über einen selbst oder die eigene Ansicht gelacht wird. Wir alle kennen den Impuls, stillschweigend die Seite wechseln zu wollen, um auf der sicheren Seite mitlachen zu können. Ja, Lachen vereint. Polemik und Humor sind erlaubt. Ich wünschte nur, wir würden nicht wie die Elefanten im Porzellanladen trampelnd im Leben von anderen herumlachen.

Wenn andere deine Werte in den Dreck treten, dich als altmodisch, konservativ, oder im Gegenteil, zu modern, zu anders und neuartig belächeln, kannst du dir zwar gewiss sein, dass sie es tun, weil sie selbst Sicherheit und Bestätigung brauchen. Aber es kratzt an deiner eigenen Überzeugung und Sicherheit. Wie oft habe ich es schon erlebt, dass Leute über Dinge lachen, die meinen Ansichten entsprechen, ohne zu wissen, dass sie dabei über mich lachen. Das ist verletzend, auch wenn ich weiß, dass es keine böse Absicht ist.

Es hat mich achtsamer darauf gemacht, über was ich lache. Ich weiß nur teilweise über das Weltbild der Leute Bescheid, die mir täglich begegnen. Jeder ist einem anderen Umfeld aufgewachsen und geprägt worden, da sollten uns verschiedene Weltanschauungen nicht überraschen. Da es uns bisher noch nicht gelungen ist, eine objektive Wahrheit zu finden, müssen wir uns gegenseitig unsere Ansichten zugestehen. Für mich ist es eine Frage des Respekts, ob ich versuche, andere zu verstehen und zu tolerieren, oder ob ich auf ihre Kosten lache, sie auslache, weil ich ihre Meinung nicht nachvollziehen kann.

Wenn ich eins gelernt habe in meinem Studium, dann ist es das Anliegen, alles zu hinterfragen. Das ist Erziehungswissenschaft, wie ich sie verstehe: Soziale Phänomene wahrnehmen, analysieren und reflektieren. Dafür schlägt mein Herz tatsächlich. Lachen ist eines dieser Phänomene, die definitiv eine genauere Betrachtung wert sind. Das sieht die Gelotologie, die Lach-Wissenschaft, ganz genauso.

Ich will gern einmal weniger mitlachen und einmal mehr nachfragen, damit mein Lachen andere nicht lächerlich dastehen lässt. Und damit Lachen ein Ausdruck der Freude bleibt. Schließlich gibt es genug schlechte Witze und Albernheiten in dieser Welt, die diesen seltsamen Vorgang zwischen Zwerchfell, Lunge, Mund und Gehirn in uns auslösen können.

[Hier könnte Ihr Flachwitz stehen.]

Immer wieder sonntags

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März 2014, als mir das Lachen noch nicht vergangen war

Sonntagmorgen. Ich wache gerade auf, als ich aus der Ferne vernehme: „Wir bitten um Entschuldigung.“ Das kommt vom Bahnhof, der direkt vor unserer Haustür liegt. Und wenn sich die Bahn entschuldigt, muss ja wieder irgendwas schief gelaufen sein.

Ich schnappte mir mein Handy, um die Bahn-App zu konsultieren. Tatsächlich, eine Reihe von Zügen fiel aus. Dabei wollte ich doch zur Kirche nach Tübingen fahren. Geistig abwesend schaute ich nach Alternativen. Wie so oft führte die Alternative über Reutlingen. In 15 min. Plötzlich hellwach sprang ich aus dem Bett und machte mich fertig.

Mit einer vom Schlaf zerknitterten Wange stieg ich in den einen Zug ein, wieder aus, wieder ein, wieder aus und kam anderthalb Stunden zu früh in Tübingen an. Die Fahrgastbetreuung versuchte, einen Betrunkenen zu wecken, um ihn in den richtigen Zug zu schicken, was dieser nicht verstand. Sein Kopf sank immer wieder zurück auf die Tischplatte. Was für ein friedvoller Start in den Sonntag. 

Draußen wurde ich von den leisen Klängen der Turmbläser begrüßt, die von der Stiftskirche aus über die Stadt posaunten. Ich suchte mir eine Bäckerei und ging meiner sonntagmorgendlichen Lieblingsbeschäftigung nach: Einer quantitativen Datenerhebung in Form einer Beobachtung. Mir war im Sommer aufgefallen, dass viel mehr Männer als Frauen am Sonntagmorgen zwischen 8 und 9 Uhr zum Bäcker kamen. Um nicht nur eine pauschale Aussage zu treffen, habe ich mich immer wieder zu kleinen Feldstudien hinreißen lassen.

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Die Ergebnisse von heute seien mal so deskriptiv in den Raum gestellt, die Schlussfolgerungen sind den Lesenden vorbehalten.

Hab ich keine anderen Hobbys? Doch. Aber ich habe beschlossen, das Beste aus so einem irritierten Morgen zu machen. Und es war schließlich nicht der erste Sonntagmorgen dieser Art. Außerhalb der Stadt zu wohnen und von der Bahn abhängig zu sein, hat mir in den Jahren viel Wartezeit und zeitfressende Umwege beschert. Wenn ich dann im Gottesdienst ankomme, hab ich schon eine halbe Weltreise und ein Achtel Abenteuer hinter mir. (Von dem Auto, das mich fast umgefahren hätte, hab ich ja noch gar nichts erzählt.)

Doch gäbe es diese verkorksten Morgen nicht, wäre ich um einige Anekdoten ärmer und wir wüssten nicht, wer in Tübingen immer wieder sonntags Weckle am Eckle kauft. Und vielleicht schreibt ja nicht das Leben, sondern die Bahn die besten Geschichten.

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