* Blumenpuste

Annakdoten aus dem Alltag

Das Blatt hat sich gewendet

Hoch oben über den Wipfeln der Stadt da lebte ein Blatt in einem alten Baum. Es war ein grünes Blatt mit matter Oberfläche und leicht gezackten Rändern, umgeben von vielen anderen Blättern, die ihm recht ähnlich sahen. Das Blatt liebte es, über den Köpfen der anderen zu thronen, denn so konnte es das Geschehen der Welt unter ihm betrachten. Frau Schmied, die jeden Tag zum Bäcker lief. Das Postauto, das meistens schräg parkte. Die Nachbarskatze auf ihrer abendlichen Runde. Jeder und Jedes hatte seine eigene Geschichte zu zeigen, und das Blatt fühlte sich mit seinem Beobachtungsposten ganz am richtigen Platz.

Abends, wenn die Sonne gerade untergegangen war und die Blätter sich zum Schlafen bereit machten, fing der alte Baum an, Geschichten zu erzählen. Geschichten von Eichhörnchen und Meisen, von Schaukeln und vom Winter. Und Geschichten von Blättern, die vorher da gewesen waren: Manche im letzten Jahr, andere vor zehn Jahren, sogar einige vor zwanzig Jahren. Der Baum konnte sich an sie alle erinnern. Und auch wenn manche schon vorzeitig vom Baum gefallen waren, so gab es doch eine gewisse Zeit im Leben, in der sich die meisten der Blätter auf eine Reise machten. Der alte Baum nannte sie „Herbst“.

Das Blatt wusste nicht genau, was es vom Herbst halten sollte. Denn so viel hatte es immerhin schon erlebt, dass es wusste, dass mit dem Herbst ein Wandel einhergehen würde. Und das Blatt mochte es nicht, wenn sich Dinge änderten. Als die Amsel vor einigen Monaten beschlossen hatte, noch vor Sonnenaufgang neben ihm auf dem Zweig loszuzwitschern, war das eine ziemliche Umstellung gewesen. Das Blatt liebte seine Gewohnheiten, denn sie machten das Wohnen hoch oben im Baum zu dem, was es war: Ein trautes Heim.

Eines Nachts wurde das Blatt geweckt von einem kühlen Wind, und sofort versuchte es, sich näher an die umliegenden Blätter zu schmiegen. Der Wind pfiff leise ein Lied, das von Aufbruch erzählte, und machte es mit seinen Böen fast unmöglich, sich an den anderen festzuhalten. Kaum hatte der Wind aufgehört zu blasen, fiel das Blatt in den Schlaf zurück und konnte sich am nächsten Morgen nur noch an einen denkwürdigen Traum erinnern.

Dann aber war der Tag gekommen. Ein Tag, den der alte Baum vielleicht als herbstlich bezeichnet hätte. Die Wolken am Himmel plusterten sich noch gewaltiger auf als sonst, und das Blatt spürte schon beim Aufwachen ein Ziehen und Zerren in den Adern. Als es sich umsah, bemerkte es, dass einige Blätter bereits fehlten; sie hatten sich wohl schon auf die Reise gemacht. Und nach einem heftigen Windstoß löste sich das Blatt vom alten Baum und wurde von den Lüften mitgerissen.

Es flog und wirbelte, drehte sich und lebte auf im vollen Rausch des Windes. Das Blatt war vor Erstaunen ganz gedankenlos. Als die erste Überraschung verflogen war und das Blatt nach unten schaute, sah es, dass es weiter als je zuvor gekommen war. Dass es noch nie so hoch oben über den Köpfen der anderen Bäume geschwebt hatte. Dass es zu dem „hoch oben“ noch ein „höher hinaus“ gab.

Das Blatt hatte sich gewendet. Wieder und wieder. Um die eigene Achse, vom Winde verweht, sich auf den Himmel zu bewegt. Der alte Baum wurde in der Ferne immer kleiner, aber das bemerkte das Blatt nicht. Es war zu sehr damit beschäftigt, alle Eindrücke aufzusaugen. „Ich habe noch nicht alles vom Herbst gesehen,“ dachte das Blatt stillvergnügt. „Aber ich fange an ihn zu mögen.“

Nachtaufgang

Der Abend hat sich schlafen gelegt
und es wird still rund um die Stadt,
als jeder Fensterladen geschlossen hat.
Nur ganz vereinzelt schallt der Klang
von Autos entlang der Straßen und Gassen.
Saßen eben noch Amseln auf den Dächern,
kriechen jetzt Katzen aus den Löchern
und machen Jagd auf Schatten, Maus und Nachtgetier.
Hier blitzt ein Licht, dann da, dann dort,
als sich über dem Ort die Sterne aus dem Finstern wagen.

Der Abend schläft, die Nacht steht auf,
und mit ihr weitet sich das Sehen.
Ein Hauch Verstehen von fernsten Galaxien.
Das Oben schien viel mehr zu sein,
als Wolken, Wind und Sonnenschein.
Reihen und Ringe, Flecken und Nebel
erwecken die Dunkelheit zum Leben.
So weit entfernt wirkt alles starr,
schaut man nur kurz ins Weltall rauf.
Verweilt man länger, nimmt man wahr,
dass jedem Gestirn ein Lauf zugrunde liegt.
Alles pilgert, alles fliegt.
Der Kosmos umwandert in Bahnen.
Und dann und wann ein Satellit.
Erahnen kann ich die Größe kaum
des Universums, in das ich schaue.

Den Himmel bemalen blaue Töne,
als ob alles Schöne, alles Schlimme,
das der Tag gesehen hat,
im tiefen Meer des Alls versinken
und Erholung finden kann.
Dann meldet sich ganz leise
ein Später auf dieser Reise durch Nacht und Träume.
Über den Bäumen und ihren Wipfeln,
den Wellen der Hügel am Horizont,
verfärbt sich der Himmel, wird heller, betont.
Schneller ziehen die Wolken davon,
als kündigten sie mit Pauken und mit Gong einen Auftritt an.
Von Liedern besungen und Mythen umrankt,
tritt er hervor, gold-glühend,
und dankt dem nächtlichen Spektakel.
Mit hellem Schein und doch bescheiden
bedenkt er sanft die ruhende Welt.
Deckt Freud und Leiden gleichsam zu,
strahlt Frieden aus im Himmelszelt.
Ins Bett schickt er, was noch nicht ruht,
mit seiner runden, vollen Glut.
Der Mond. Der treue, gute Freund.

Grüne Dreckhände

„Ach Anna.“ Wenn dieser Satz in meiner WG fällt, kann man sich zu 16% sicher sein, dass dieser Seufzer mir und der mich umgebenden Flora gilt. Ich biete durchaus auch andere Anlässe zum Seufzen, sodass es alternativ ein seltsames Erlebnis, einen schlechten Wortwitz oder ein aufgeschobenes Projekt betreffen könnte. In diesem Fall jedoch die Pflanzenwelt.

Mein Verhältnis zu Pflanzen ist recht ambivalent. Ich mag sie sehr und bin gern von ihnen umgeben, idealerweise aber unter freiem Himmel. Denn wenn sie nicht in freier Wildbahn wachsen, sondern von mir angepfanzt oder gepflegt werden, kann es schlichtweg sein, dass ich sie vergesse.

Dabei habe ich meine ersten Pflanzerfahrungen bereits sehr früh gemacht, als mein Opa für jeden von uns Kindern ein kleines Beet im Garten umgegraben hatte. Wir pflanzten darauf Erdbeeren an – wobei ich stark vermute, dass sich in Wirklichkeit mein Opa darum gekümmert hat, damit wir auch tatsächlich etwas ernten konnten.

Seitdem ist einige Zeit vergangen und ich versuche, mich selbst um meine Pflanzen zu kümmern. Ich sah diverse Töpfchen kommen und gehen, und widerlegte meine Theorie, dass die Pflanzen, die mir geschenkt werden, überleben. (An dieser Stelle eine Schweigeminute für Georg George I – III, ihr habt lange durchgehalten).
Besonders für meine grün bedaumten Mitbewohner gibt es Anlass zum Seufzen, wenn ich mal wieder mit einer vertrockneten Pflanze in der Hand im Türrahmen erscheine. Ich kann mir daraufhin anhören, ob es diesmal wohl zu viel Wasser, zu wenig Wasser, zu wenig Schatten, zu wenig Dünger oder die falsche Erde war.

Nachdem im letzten Jahr die meisten meiner gekauften Balkonblumen gelitten hatten, und auch Koriander, Currykraut und Oregano kläglich verendet sind, beschloss ich im Frühling: „Dieses Jahr pflanze ich einfach Wildblumen an.“ Aus der Ecke vernahm ich ein: „Du weißt schon, dass man die auch gießen muss, oder?“
Bei so viel Vertrauen und nett gemeinten Ratschlägen kann dieses Jahr ja nichts mehr schiefgehen. Ich gieße also meine Pflanzen, so ich denn da bin, und warte geduldig darauf, dass ein gewisser Anteil davon eingeht. Man hat ja schließlich so seine Erfahrungen.

Ich glaube sowieso, dass der „grüne Daumen“ ein Fehler in der Überlieferung ist. Die Person möchte ich erst einmal sehen, die mit nur einem Daumen in der Erde buddelt, der davon nicht dreckbraun wird, sondern grün. Wenn wir also anfingen, stattdessen von „grünen Dreckhänden“ zu sprechen, wäre das ganze Pflanzunterfangen ein wenig realistischer: Manche Pflanzen werden grün, manche Pflanzen werden braun. Und das ist ja zumindest bei Kokosnüssen ein anstrebenswerter Zustand.

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Anm. d. Red.: Die Rückmeldung aus der WG zum Beitrag: „Aber Kokosnüsse sind doch Früchte und keine Pflanzen!“

So viel Heimlichkeit

Ich saß auf meinem Sofa und hörte ein Knistern. Sofort drehte ich meinen Kopf, um zu sehen, woher das Geräusch kam. Ich vermutete, einer meiner 20 Stinkwanzenmitbewohner sei von der Winterstarre erwacht und krabbelte durch das Zettelchaos auf meinem Schreibtisch. Aber ich konnte nichts entdecken. Ich widmete mich erneut meinem Buch, da fing es wieder an zu knistern. So, als ob heimlich jemand versuchte, ein Bonbon aus seinem Papier zu wickeln. Es war ein verstohlenes Geräusch, nicht ganz still, aber heimlich. Was war da in meinem Zimmer, das in aller Unscheinbarkeit Geheimnisse entpackte?

Da fiel mein Blick auf meinen Couchtisch; besser gesagt, auf den Krug, der darauf stand. Was sich da Stück für Stück aus dem winterlichen Schlafsack schälte, war eine Narzisse. Die selbstverliebteste Blume unter der Sonne. So selbstverliebt und doch so zaghaft.

Ich war für eine ganze Weile wie gefesselt von dem Gedanken, dass ich Wachstum hören konnte. Ich hatte einen Bund unscheinbarer grüner Stängel gekauft, vom Leben abgeschnitten, gekappt, in Kisten verpackt. Äußerlich unterschieden sich die grünen Halme kaum von einem Bund Frühlingszwiebeln, aber auf den zweiten Blick und einige Zeit Warten hin zeigte sich der Unterschied.

Wüsste die Narzisse, wie faszinierend, einzigartig, kräftig-gelb sie wäre, wenn sie sich nur entfalten würde, wäre ihr Wachstum wohl weniger schüchtern, sondern vielmehr explosionsartig. Sie würde ihre Blütenblätter jedem entgegenstrecken, der ihren Weg kreuzte, mit dem Selbstbewusstsein, das nur eine Blume kennt.
Aber selbst eine Narzisse, die strahlende Krone des Frühlings, hält zögernd inne. Vielleicht aus Unsicherheit. Durch einen überwältigenden Vergleich mit den Blumen um sie herum. Aus Kraftlosigkeit. Beim Warten auf bessere Lichtverhältnisse.

Wer weiß schon, was eine Narzisse bewegt. Aber ich weiß, was mich bewegt. Und vor allem: Was mich dazu bringt, mich nicht mehr zu bewegen. Nicht mehr zu wachsen. Projekte zur Seite zu legen. Auf bessere Zeiten zu hoffen. Zu Stagnieren im Hamsterrad des Chaos.

Ich möchte meinem Wachstum wieder mehr zuhören. Ich will hören, wie es erwartungsvoll knistert, während sich Falte für Falte zurechtlegt für ein weiteres Blütenblatt. Wachsen und Werden hat seine Zeit, aber ich möchte darüber nicht das Potential vergessen, das den Unterschied zwischen einem Bund Frühlingszwiebeln und einem Bund Narzissen ausmacht. Die einen werden kleiner, geschnitten für Salate und Speisen. Die anderen wachsen, werden größer und blühen, weil sie nur so etwas zu geben haben.

Zeit finden

„Wo findest du nur die Zeit, so viel zu schreiben?“, fragte mich jemand. Da ich keine konkrete Antwort darauf wusste, stellte ich Nachforschungen an. In meiner Hosentasche fand ich ein zerknülltes Taschentuch, eine Haarnadel und einen Plastikchip für den Einkaufswagen.
Da war die Zeit nicht anzutreffen.

Ich stopfte alles wieder zurück – wobei, das Taschentuch – ja, das konnte nun endlich in den Müll wandern. Ich machte den Deckel vom Restmüll auf und warf den Taschentiger in seinen Schlund, zu allen restlichen Abfällen, die dort ihr Dasein frönten. Mir schlug ein atemberaubender Gestank entgegen, gepaart mit einigen Hinweisen auf nächtliche Pommesorgien. Ich machte den Deckel schnell wieder zu und trat ein paar Schritte zurück. Auch dort war die Zeit nicht zu finden gewesen. Erleichtert seufzend dachte ich, wie gut das war, dass ich die Zeit offensichtlich nicht weggeworfen hatte.

Ich stolperte über meine Gießkanne – eine schön bunt getupfte – und erinnerte mich: Meine Pflanzen. Die geduldig Wartenden. Die hatten auch schon seit ein paar Tagen kein Wasser mehr gesehen. Ob sie die Zeit gesehen hatten, fragte ich sie. Der Kaktus nickte langsam, gefolgt vom zustimmenden Grummeln des Bonsais. Die hatten sie gesehen.
Ob ich sie denn nicht hören würde, fragten sie mich.

Ich hielt für einen Moment inne und lauschte. Die Spülmaschine ratterte im Hintergrund. Ein Auto fuhr vorbei. Draußen brauste der Wind ums Haus. Darunter hörte man leise einen Takt.
Tack tack tack tack.
Aber auch der Wecker, aus dem die Geräusche kamen, konnte mir keine Zeit geben. Nur einige Zahlen und Striche in diskutabler Ordnung.

Tack tack tack tack.
Hoch, tief, hoch, tief.
Wie ein Schluckauf.
Vielleicht musste die Zeit einfach mal wieder tief durchatmen.
Oder die Luft anhalten.

Ich setzte mich in meinen Schaukelstuhl und wippte zum Takt
vor, zurück, vor, zurück.
Wenn der Zeit etwas sauer aufgestoßen war, wollte ich sie nicht jagen. Ich beschloss zu warten, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
Tack tack tack tack.
Aber wie es klang, konnte das noch einige Zeit dauern.

Sei kein Frosch

Stürmisch wirbelt der Wind alles durch die Luft, was nicht niet- und nagelfest ist. Die Sonne scheint nur matt durch das Grau, an dem die Wolken vorbeijagen. Es ist ein nass-trüber Morgen im Dezember.

Ein kleiner Spatz klammert sich an den Rand der Metallschale, die als Vogeltränke auf dem Balkon steht, und beugt sich nach unten, um zu trinken. Seine Federn flögen ihm nur so um die Ohren, wenn er denn welche hätte. Nun sieht er einfach nur aus wie ein Federball. Aufgeplustert, durchgelüftet, vom Winde verweht. Wieder und wieder beugt er sich nach unten, nimmt etwas Wasser in den Schnabel und richtet sich wieder auf, um das Wasser zu schlucken.

Seht euch die Vögel unter dem Himmel an, sagt die Bibel. Mein Zimmer bietet mir einen Logenplatz dafür. Obwohl wir so hoch oben wohnen, flattert es nur so vor unseren Fenstern. Neugierige Meisen, Spatzen, Hausrotschwänze, Rotkehlchen hüpfen immer wieder über den Balkon, auf der Suche nach Wasser, Nahrung und einem Ort zum Verweilen.

Wie oft schon saß ich da, machte mir große Gedanken über kleine Angelegenheiten, oder ging Riesenberge in Babyschritten an, als mir einer der Vögel durch das Bild sprang. Seht euch die Vögel unter dem Himmel an, sagt die Bibel. Sie säen nicht, sie ernten nicht, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Und tatsächlich, wenn ich sie mir so ansehe, diese kleinen Wesen, bringen sie mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.

Weniger ist mehr. Weniger haben, weniger müssen, weniger tun. Natürlich gehört zu einem Menschenleben doch etwas mehr dazu, als trinken, futtern und einen kleinen Verdauungsklecks auf der Parkbank zu platzieren. Wir sind keine Spatzen.
Und doch sind wir versorgt. Wenn wir all unser Müssen beiseite lasse, alles Sorgen für das Weihnachtsfest, und ob alles gut und richtig und pünktlich und festlich … dann können wir sehen, dass die Welt sich auch so weiterdreht. Dass es Weihnachten wird, egal, ob ein Braten auf dem Tisch steht, oder Butterbrot. Wenn Gott selbst die Spatzen versorgt, wie viel mehr wird er mich versorgen.

Sei kein Frosch und sei ein Spatz. Sei einfach mal da in der Einfachheit des Lebens. Geh spazieren und lass dein Handy zu Hause. Mach ein Nickerchen, einfach, weil du es kannst. Bereite dein Essen zu, als ob es das einzige wäre, was diesen Tag spannend macht. Sitz einfach da und schau in die Welt hinaus. Trink ein Glas Wasser Schluck für Schluck. Lass die Arme im Wind kreisen und fühl dich frei. Finde ein paar Vögel und beobachte sie.

Der Spatz hüpft rüber zum Geländer, schaut nach rechts, schaut nach links. Dann schwingt er sich auf in die Lüfte, wo er von der nächsten Windböe erfasst wird. Er fliegt weiter, vielleicht zum nächsten Baum, vielleicht auf eine Wiese. Er fliegt jedenfalls nicht in die Stadt zum Einkaufen und Weihnachtsstress.

Glaube, der durch Berge wandert

blog1Ich bin kein zielstrebiger, determinierter, willensstarker Mensch. Ich bin der Mensch, der gerne ja sagt, gerne losläuft, und beim nächsten schönen Fleck am Wegesrand verweilt. Weil ist ja auch schön. Für mich ist der Weg das Ziel, und jede Abzweigung eine willkommene Einladung zum Abenteuer.

Also war es für mich dieses Jahr eine große Lektion, zu erfahren, dass auch ich zielstrebig sein kann. Und viel mehr überraschte es mich, dass der Glaube eine so große Rolle spielt. Wovon ich überzeugt bin, kann mir helfen, einen Schritt weiter auf das Ziel zuzugehen. Einen Schritt weiterzugehen kann bedeuten, das Unmögliche möglich zu machen.

Ich steckte im italienischen Aostatal, bekannt für die Riesen der Alpen, die dort zu finden sind. Mein Plan war es, 14.30 Uhr einen Bus zurück aus den Bergen in die Stadt zu nehmen, um dort den Heimweg anzutreten. Dafür musste ich 6 Stunden straff ins Tal hinunterwandern, ohne großartig Pausen zu machen. Ich war davon überzeugt, dass ich das schaffen konnte – war mir aber auch der Tatsache bewusst, dass ich weder den Weg kannte, noch trainiert (i.e. sportlich) war. Da es aber keine Alternative gab, musste ich es schaffen.

Mit dabei: Eine kurze Wegbeschreibung mit den markantesten Punkten, die ich passieren würde. Ein paar Höhenmeterangaben, keine Landkarte. Berg runter – was konnte da schon schief gehen.

Ich lief. Und lief. Und lief. 14.30 Uhr das Ziel. Ich lief. Ohne Pause. Vom Schotter der Bergpässe hinunter zur Rasengrenze, über Heiden hinweg zur Baumgrenze, durch Krummholz hindurch bis zu dichteren Wäldern. Meine kleine Orientierungshilfe zusammengefaltet in der Hosentasche, die mir vor 2 Stunden das letzte Mal bestätigt hatte, dass ich mich auf dem richtigen Weg befand. Immer weiter ins Tal hinab. Vor mir der immer gleich bleibende Blick auf die Bergrücken gegenüber.

Meine Überzeugung, dass ich es schaffen könnte, war immer noch größer als der Zweifel. Immer noch größer als das Verlangen danach, am Wegrand am Bach zu verweilen, Beeren zu essen, und den herrlichen Duft der Lärchen bei einem Picknick zu genießen. Ja, der Wegrand war rotkäppchen-mäßig verlockend.

Irgendwann war es 14.10 Uhr und ich verstand jetzt erst, was es bedeute, dass in meiner Wegbeschreibung „Aufstieg zum Ort“ stand. Ich war endlich am tiefsten Punkt des Tals angelangt und vor mir lag erneut eine steile Wand im Wald. Kein Problem, wäre ich gerade losgelaufen. Ein Problem, wenn man schon Stunden gelaufen ist. Mit hochrotem Kopf keuchte ich den Berg hinauf und konnte es nicht fassen, dass dieser Wald kein Ende zu nehmen schien.

Da hörte ich jubelnde Rufe. Über mir saß eine Frau am Wegesrand, die auf Läufer eines großen Ausdauerlaufes wartete, und währenddessen mich anfeuerte. Ich dankte und nutzte direkt die Gelegenheit, um zu fragen, ob das der Weg nach Closé sei. (An dieser Stelle ein Dank der Firma an den Französischunterricht.) „Closé? Nie gehört,“ antwortete sie. Der nächste Ort sei in dieser Richtung noch 2 km entfernt.

2 km? Geschockt lief ich weiter. Das konnte doch nur ein Scherz sein. Ich lief nicht auf den Ort zu, in dem ich in den Bus steigen wollte. Noch dazu war dieser andere Ort viel zu weit weg.

Ich war erschöpft bis auf den kleinen Zeh. Auch mental war ich mittlerweile so weit, diese Aktion in der Kategorie „Dumme Idee“ einzuordnen und einfach aufzugeben. Doch die Alternative zum Bus wäre gewesen, ein recht teures Taxi aus der Stadt hinauffahren zu lassen – wenn ich meine Situation einem Italiener am Telefon hätte erklären können.
Also lief ich Kurve um Kurve nach oben, in einem Tempo, dass nicht darauf schließen ließ, dass ich einen dicken Rucksack auf dem Rücken hatte. Ich wollte meine Hoffnung noch nicht aufgeben.

Als die ersten Häuser zu sehen waren, kam mir ein alter Mann mit einem kleinen Jungen entgegen. Ich frage ihn, wo im Ort die Bushaltestelle sei. Er gestikulierte wild und warf mir einige italienische Brocken entgegen. Der Bus führe aber erst abends wieder. Ich schaute ihn ungläubig an. Waren meine Recherchen so falsch gewesen?

Egal. Ich bedankte mich auch bei ihm und hinkte in den Ort hinunter. Dort fand ich direkt die Bushaltestelle. Wie in Trance zog ich meine Wanderschuhe aus und analysierte währenddessen die italienische Grammatik des Fahrplans. War „nel“ jetzt eine Verneinung? Und hat „feriali“ etwas mit Ferien zu tun – vielleicht mit den Ferien, die am Vortag geendet hatten? Die Fußnoten des Busfahrplans waren sehr umfangreich. Kurz gesagt – ich zweifelte jetzt auch daran, dass ein Bus kommen würde.

Ich wusch meine Füße in einem Brunnen, zog Sandalen an, nutzte das Freiluft-WC hinter einem Traktor, füllte meine Wasserflasche auf – da rollte der Bus ein. Der Bus. Der Bus. Es gab ihn doch.

Ich ließ mich in einen Sitz plumpsen, und schaute nach oben zu den Bergen, als der Bus anfuhr. Hätte ich wirklich gewusst, wie anstrengend der Weg sein würde, hätte ich mir von Anfang an einen anderen Reiseplan organisiert. Da ich es nicht wusste, aber glaubte, es sei möglich, hatte es am Ende funktioniert.

Jesus sagte einmal zu seinen Freunden: »Selbst wenn euer Glaube nur so groß ist wie ein Senfkorn, könnt ihr zu diesem Berg sagen: ›Rücke von hier nach dort!‹, und er wird dorthin rücken. Nichts wird euch unmöglich sein.« Von dieser Welt der Möglichkeit konnte ich an diesem Tag ein Stück mehr erahnen.

Als ich nach meiner Rückkehr die Waschmaschine aufmachte, fielen mir weiße Brösel in den Klamotten auf. Das war kein Taschentuch, wie so häufig. Das war das jähe Ende meiner kleinen Wanderkarte.

Mit der Zeit gehen

Ich wurde groß
ohne bloß auf den Fernseher zu schauen.
Wild & Free statt MTV
So stromerten wir durch die Wälder.
Auf den Feldern dröhnten keine Charts,
nur Vogelgesang und Traktoren bekamen die Ohren zu hören.
Auch Stars und Sternchen existieren nicht.
Keiner von uns bekam sie je zu Gesicht
und jeder war für sich eine Berühmtheit.
Weit und breit niemand, der so gut vom Fahrrad fallen konnte, wie ich.
Maßstäbe waren anders gesetzt,
da wir keinen Idealen hinterherhetzten
sondern jeder selbst wertvoll war
ohne Glanz und Gloria.
Als „von gestern“ betitelte man mich.
Ich liefe ein wenig hinter der Zeit.
Bleibt man überhaupt up to date,
wenn man sein eigenes Tempo geht?
Oder bleibt man hinter dem Glück zurück,
das der Zeitgeist als begehrenswert verkauft?

Ich fing an, schneller zu laufen
und überholte die Zeit mit meinen Gedanken,
die große Luftschlösser umrankten,
in denen meine Zukunft zu Hause war.
„Eines Tages“, „Dann, wenn“, „Später einmal“ –
so stahl ich meiner Zeit die Gegenwart,
war ihr eine Nasenlänge voraus,
und wollte, dass meine Faust auf ihr tickendes Auge passte.
Die Realität hasste mich dafür,
weil es ihr nichts anderes übrig ließ, als mich zu enttäuschen.
Ich bließ Trübsal und Seifenblasen in die Luft
und mit jedem Platzen verging mir die Lust zum Hoffen ein bisschen mehr.
Einem Tagträumer, Fantasten, Visionär läuft die Zeit geduldig hinterher,
bis sie an einer Kreuzung einen anderen Weg verfolgt.
Nicht alles, was von Ferne glänzt ist Gold.

Ich schaute nach vorn und ich schaute zurück
und als ich endlich ruhig stand,
wurde meine Hand von der Zeit ergriffen.
Sie zeigte mir fein geschliffene Momente,
kunstvoll bereitete Augenblicke, tiefen Frieden in der Mitte.
Und seit langem ging ich wieder mit der Zeit,
Schritte im Alltagskleid des Seins.
Von Fülle bis Reichtum fehlte mir keins.
Alles war voll bis an den Rand,
jeder Zeitpunkt fand seinen rechten Stand
genau, wie jedes Gefühl, jede Freude, jeder Schmerz.
Mit jedem Herzschlag ein neuer Moment,
den nur das volle Bewusstsein erkennt.
Weder das Wünschen für Morgen noch gestrige Melancholie
konnten die Melodie übertönen,
zu der mein Leben leise im Präsenztakt ging.
Und hin und wieder entschied ich zuletzt große Fragen
mit der Überlegung „Wann, wenn nicht jetzt?“
Zu sein tut gut, im Hier zu verweilen.
So will ich nicht eilen, nicht hinten anstehen,
sondern bummelnd fröhlich
mit der Zeit gehen.

Pfingsten im Gebüsch

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„Entschuldigung, dürfen wir Sie… dürfen wir Sie eine Frage stellen?“ Ich war gerade auf dem Heimweg, im Korb ein paar Blumen vom Wegesrand, im Herzen Musik vom Gottesdienst. Vor mir stand eine Truppe Kinder in allen Formen und Farben, blond, brünett, schwarzhaarig, mit Zahnlücke und Brille, mit langen Haaren und Schramme im Gesicht, von blauäugig bis schwarz, von klein bis groß. Ich brachte mein Fahrrad zum Stehen, wobei ich eigentlich gar keine andere Wahl hatte. Sie standen einfach mitten auf dem Fahrradweg, entschlossen, mich anzusprechen.

„Wir machen einen Flohmarkt, gleich da drüben, und wir würden uns freuen, wenn Sie vorbeischauen würden. Möchten Sie unseren Flohmarkt besuchen?“ 14 Kinderaugen schauten mich erwartungsvoll an. Dieser charmanten Einladung konnte ich also nur folgen. ‚Gleich da drüben‘ hieß hinter einem Erdwall, auf dem weitere aufgeregte Kinder herumhopsten. Dieser Ort wäre perfekt für einen Hinterhalt gewesen, mit Büschen vom Straßengeschehen abgeschnitten, doch stand dort nur ein kleiner Tisch mit allerlei Krimskrams bedeckt. Benutzte Stifte, glitzernde Aufkleber, eine Spielzeugpistole, Sammelkarten, eine Einhornfigur, und was das Kinderzimmer noch so hergegeben hat; dahinter eine kleine Geldkassette. Obwohl ich wirklich gern etwas kaufen wollte, fiel es mir recht schwer, eine Entscheidung zu treffen.

„Unsere erste Kundin!“ hallte es durch das Gebüsch und noch mehr Kinder strömten zusammen, um mich aus der Ferne zu begutachten. Hm, ein neues Piratentattoo, warum nicht? Schließlich fand ich etwas und machte mich wieder auf den Weg. Als ich mich auf dem Fahrrad nochmal umdrehte, stand dort die Truppe Kinder aufgereiht auf dem Erdwall und winkte mir hinterher.

Ich muss jetzt noch lachen, wenn ich daran denke. Und wenn ich darüber nachdenke, ist eigentlich ein ganz passendes Erlebnis für einen Pfingstsonntag. Ein Erlebnis, das einen Pfingstgedanken veranschaulicht. Da ist eine Gruppe Kinder, die verschiedener nicht sein kann. In dem Viertel, in dem sie wohnen, haben 70 % ihrer Altersgruppe einen Migrationshintergrund. Sie haben eine Idee, die sie wahnsinnig aufregend finden und die sie Tische und Stühle in Bewegung setzen lässt: Ein Flohmarkt. Das ist ihre Inspiration, das lässt sie zusammen arbeiten, das gibt ihnen Mut, zusammenzustehen und Fremde auf der Straße anzusprechen, und sich am Ende gemeinsam zu freuen. Sie wollen Leuten von ihrem Flohmarkt erzählen und sie daran teilhaben lassen.

Auch wenn der Vergleich an manchen Stellen hinkt, glaube ich, dass Pfingsten so etwas Ähnliches ausgelöst hat. Ein Haufen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Bildung wird mit dem Heiligen Geist ausgestattet: Eine Quelle der Inspiration und Hoffnung, eine Idee, ein Mutmacher, durch den sie gemeinsam arbeiten wollen, durch den sie sich gemeinsam freuen können, und durch den sie andere am Projekt Gott teilhaben lassen wollen. Und am Ende wurde das Ganze Pfingsten genannt, und nicht Straßensperren-Gebüschflohmarkt-Fest. Hatte wohl praktische Gründe.

Ich habe übrigens eine Gesichtsmaske mit Kokos und Ananas erstanden – vegan, aber trotzdem nicht zum essen. Es sind zwei Portionen, falls mir also jemand Gesellschaft leisten will – meldet euch, solange der Vorrat reicht.

Geschichten aus der Nase bohren

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„Ich habe aber nichts zu erzählen.“

Es war ein warmer Nachmittag im Juni, den wir gemeinsam am See verbrachten. Da ich wenige Leute kannte und das den anderen ähnlich zu ergehen schien, fing ich ein paar Gespräche an.

Da tauchte er auf, allen bekannt und von vielen gefürchtet: Der Smalltalk. Der Schwatz zwischen Tür und Angel, zwischen „eigentlich habe ich keine Lust, über so banale Dinge zu reden“ und „wie soll man sich aber sonst kennenlernen?“. Natürlich, es kann ganz interessant sein, zu erfahren, was XY beruflich macht. Oder was YZ über den Sonnenschein denkt. Aber auch ein kleines Geplauder möchte einmal groß werden. Vom Smalltalk sollte irgendein Weg zu tiefgründigen Gesprächen führen.

Ich schlage diese Brücke gern mit der Aufforderung „Erzähl mir einen Schwank aus deiner Jugend!“, denn es ist spannend, Leute durch Geschichten kennenzulernen. Und so fragte ich also auch an diesem Nachmittag nach den Erlebnissen der anderen.
Da entgegnete mir jemand: „Ich habe aber nichts zu erzählen.“ – In diesem Moment fiel mir doch glatt die Kinnlade meines geistigen Auges herunter. Wie konnte jemand behaupten, er habe keine Geschichten, die er mit uns teilen konnte?

Unser Leben steckt voller Geschichten. Da gibt es die nicht ganz so spektakulären Geschichten vom Wäsche waschen, vom Briefkasten leeren, vom Tee trinken und von der Aldi-Werbung. Die schon etwas brisanteren Geschichten vom verbrannten Toast, dem Loch in der Socke, der Begegnung in der Straßenbahn und dem überraschenden Regenschauer. Und als Sahnehäubchen die Geschichten von einzigartigen Momenten und Menschen.

Deine Geschichte. Deine Geschichten. Die sind es wert, erzählt zu werden, weil sie dich zu der Person machen, die du bist. Egal, ob sie Jahre alt sind, oder erst gestern passiert.

Heute morgen saß ich gemütlich an einem reich gedeckten Küchentisch ein paar Straßen weiter, als ich versehentlich sagte, dass man manchen Menschen die Geschichten aus der Nase bohren müsse. Dabei habe ich wohl versehentlich „nachbohren“, „etwas aus der Nase ziehen“ und „in der Nase bohren“ in einen Topf geworfen.
Und obwohl ich nicht beabsichtige, Leute mit 3 extra Nasenlöchern zurückzulassen, nachdem ich sie gelöchert habe, so glaube ich doch, dass sich die Mühe lohnt. Die Mühe, den Kleintalk hinter sich zu lassen, um Schritt für Schritt und Loch für Loch zu erfahren, welcher Mensch hinter diesen Geschichten steckt. Die Mühe, zu erfahren, welche Geschichten dein Leben erzählt.

Ich bin mir sicher, dass es im Notfall auch ein Schraubendreher tut.

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