Das Blatt hat sich gewendet

Hoch oben über den Wipfeln der Stadt da lebte ein Blatt in einem alten Baum. Es war ein grünes Blatt mit matter Oberfläche und leicht gezackten Rändern, umgeben von vielen anderen Blättern, die ihm recht ähnlich sahen. Das Blatt liebte es, über den Köpfen der anderen zu thronen, denn so konnte es das Geschehen der Welt unter ihm betrachten. Frau Schmied, die jeden Tag zum Bäcker lief. Das Postauto, das meistens schräg parkte. Die Nachbarskatze auf ihrer abendlichen Runde. Jeder und Jedes hatte seine eigene Geschichte zu zeigen, und das Blatt fühlte sich mit seinem Beobachtungsposten ganz am richtigen Platz.
Abends, wenn die Sonne gerade untergegangen war und die Blätter sich zum Schlafen bereit machten, fing der alte Baum an, Geschichten zu erzählen. Geschichten von Eichhörnchen und Meisen, von Schaukeln und vom Winter. Und Geschichten von Blättern, die vorher da gewesen waren: Manche im letzten Jahr, andere vor zehn Jahren, sogar einige vor zwanzig Jahren. Der Baum konnte sich an sie alle erinnern. Und auch wenn manche schon vorzeitig vom Baum gefallen waren, so gab es doch eine gewisse Zeit im Leben, in der sich die meisten der Blätter auf eine Reise machten. Der alte Baum nannte sie „Herbst“.
Das Blatt wusste nicht genau, was es vom Herbst halten sollte. Denn so viel hatte es immerhin schon erlebt, dass es wusste, dass mit dem Herbst ein Wandel einhergehen würde. Und das Blatt mochte es nicht, wenn sich Dinge änderten. Als die Amsel vor einigen Monaten beschlossen hatte, noch vor Sonnenaufgang neben ihm auf dem Zweig loszuzwitschern, war das eine ziemliche Umstellung gewesen. Das Blatt liebte seine Gewohnheiten, denn sie machten das Wohnen hoch oben im Baum zu dem, was es war: Ein trautes Heim.
Eines Nachts wurde das Blatt geweckt von einem kühlen Wind, und sofort versuchte es, sich näher an die umliegenden Blätter zu schmiegen. Der Wind pfiff leise ein Lied, das von Aufbruch erzählte, und machte es mit seinen Böen fast unmöglich, sich an den anderen festzuhalten. Kaum hatte der Wind aufgehört zu blasen, fiel das Blatt in den Schlaf zurück und konnte sich am nächsten Morgen nur noch an einen denkwürdigen Traum erinnern.
Dann aber war der Tag gekommen. Ein Tag, den der alte Baum vielleicht als herbstlich bezeichnet hätte. Die Wolken am Himmel plusterten sich noch gewaltiger auf als sonst, und das Blatt spürte schon beim Aufwachen ein Ziehen und Zerren in den Adern. Als es sich umsah, bemerkte es, dass einige Blätter bereits fehlten; sie hatten sich wohl schon auf die Reise gemacht. Und nach einem heftigen Windstoß löste sich das Blatt vom alten Baum und wurde von den Lüften mitgerissen.
Es flog und wirbelte, drehte sich und lebte auf im vollen Rausch des Windes. Das Blatt war vor Erstaunen ganz gedankenlos. Als die erste Überraschung verflogen war und das Blatt nach unten schaute, sah es, dass es weiter als je zuvor gekommen war. Dass es noch nie so hoch oben über den Köpfen der anderen Bäume geschwebt hatte. Dass es zu dem „hoch oben“ noch ein „höher hinaus“ gab.
Das Blatt hatte sich gewendet. Wieder und wieder. Um die eigene Achse, vom Winde verweht, sich auf den Himmel zu bewegt. Der alte Baum wurde in der Ferne immer kleiner, aber das bemerkte das Blatt nicht. Es war zu sehr damit beschäftigt, alle Eindrücke aufzusaugen. „Ich habe noch nicht alles vom Herbst gesehen,“ dachte das Blatt stillvergnügt. „Aber ich fange an ihn zu mögen.“